Die vier Tugenden eines Kämpfers

Menschen prügeln schon Ewigkeiten aufeinander ein. Mit und ohne harte, scharfe Gegenstände. Und weil wir clevere Primaten sind, arbeiten wir auch so lange schon darin, unser Vorgehen zu optimieren. Man will den Job ja möglichst unkompliziert erledigen und um Gottes Willen nicht auch noch selbst verletzt werden.

Also bauen sich clevere Primaten Systeme von Aktionen und Reaktion, von Prinzipien und Techniken. Das gilt nicht nur für das Kämpfen an sich. Man braucht auch ein System für die Weitergabe an Schüler. Denn clevere Primaten sind soziale Wesen. Und welchen Sinn hat es, ein schönes System aufzubauen, wenn die eigene Horde nichts davon hat?

Wer immer die eigene Horde auch sein mag.

Solch ein cleverer Primat war ein Mann namens Fiore dei Liberi. Er lebte im 14. und Anfang des 15. Jahrhundert im Norden des heutigen Italiens. Er verdiente seinen Lebensunterhalt unter anderem als Fechtlehrer für Adlige und Condottieri, also professionelle Kämpfer.

Sein System umfasste den Kampf ohne und mit Waffen aller Art (Dolch, Schwert, Speer, Axt, Lanze), mit und ohne Rüstung, zu Fuß und zu Pferd. Die Prinzipien sind durchgängig. Die Techniken sind von bestechender Klarheit. Die Biomechanik ist zum Sterben effizient. Wortwörtlich. Die einzelnen Elemente formen ein ganzheitliches System wie die sauber verwobenen Fäden eines edlen Tuches.

Fiores Kampfkunst wurde in vier reich bebilderten Manuskripten überliefert. Die Darstellung ist ungewohnt, da Fiore nicht das Allgemeine an den Anfang seiner Darstellung stellt (so wie wir das heutzutage automatisch machen). Und mittelalterliches Italienisch ist auch nicht jedermanns Sache. Doch es gibt Übersetzungen ins Englische. Und wenn man einmal gelernt hat, Struktur und Bildsprache zu verstehen, so eröffnet sich dem Leser eine wunderbare Welt kombativer Weisheit.

Fiore erklärt auch ganz klar, über welche Attribute - er nennt sie Tugenden - ein guter Kämpfer verfügen muss. Er benennt sie nicht nur. Er benutzt auch symbolhafte Bildsprache.

Urteilsvermögen - verkörpert durch einen Luchs mit einem Zirkel in der Tatze.

Schnelligkeit - verkörpert durch einen Tiger mit einem Pfeil.

Tapferkeit - verkörpert durch einen Löwen, der einen Herz hält.

Stärke - verkörpert durch einen Elephanten, der einen Turm trägt.

Das folgende Bild vermittelt einen Eindruck. Es stammt aus dem sogenannten Getty-Manuskript (weil im Eigentum des Getty-Museums, Los Angeles).

Wer im Kampf bestehen will, muss eine Gelegenheit zum Handeln erst einmal erkennen und entscheiden, was zu tun ist (Urteilsvermögen). Er muss dann das Herz (Tapferkeit) haben, um auch zu handeln. Er muss rechtzeitig handeln (Schnelligkeit). Und seine Aktion muss stark sein: Es muss genug Muskelmasse eingesetzt werden, und die Struktur (Stand, Ausrichtung) muss stimmen.

Es fällt auf, dass zwei der Tugenden (Urteilsvermögen, Tapferkeit) geistiger Natur sind und zwei (Stärke und Schnelligkeit) körperlicher Natur. Tja, mens sana in corpore sano.

Dies ist keine bloße Theorie. Wenn es bei einer dieser “Tugenden” hapert, dann kann man einen Kampf leicht verlieren. Und im Mittelalter gab es für den zweiten Sieger keine Silbermedaille, sondern oft nur einen Holzsarg.

Damit man eben nicht zweiter Sieger wird, muss man jede Technik im Hinblick auf jede dieser vier Tugenden trainieren. Nehmen wir ein Beispiel aus Fiores Werk, und zwar aus dem Kapitel über unbewaffnetes Kampfringen (“abrazare”). Der Angreifer packt den Verteidiger am Genick und an der Hüfte (bzw. versucht es wenigstens). Der Verteidiger blockt den Griff zur Hüfte und nimmt den Arm am Genick in einen Streckhebel über den Ellenbogen. Die präzisen Details der Technik sind für die Zwecke dieses Artikels nicht relevant. Daher soll dieses Bilder (ebenfalls aus dem Getty-Manuskript) genügen.

MS_Ludwig_XV_13_06v.jpg

Erst einmal übt man die Technik ein, bis man sie wenigstens im Groben beherrscht. Dann würde ich als erstes den Aspekt der Stärke testen und trainieren: Der Angriff erfolgt langsam, die Abwehr auch. Aber der Angreifer setzt mehr und mehr seiner Kraft ein, übt mehr und mehr Druck aus. Der Verteidiger findet sehr schnell heraus, ob seine Struktur, insbesondere sein Stand, dem Druck gewachsen ist. Jede Schwäche führt zum Kollabieren der Verteidigung, und der Angriff kommt durch.

Als nächstes wäre bei mir die Schnelligkeit dran. Der Angriff kommt nicht mehr stark, dafür aber schnell. Der Verteidiger übt, die Abwehr, inklusive Gegenangriff, entsprechend schnell auszuführen.

Um das Urteilsvermögen des Verteidigers zu trainieren, muss der Angreifer seine Aktion immer wieder und unvorhersehbarerweise variieren. Dies zwingt den Verteidiger, darauf zu achten, was der Angreifer genau macht, um dann passend zu reagieren. Im vorliegenden Beispiel verhindert der Angreifer den Armstreckhebel des Verteidigers immer mal wieder durch überraschendes Beugen seines Arms. Der Verteidiger reagiert mit einem Wurf nach hinter über sein vorderes Bein.

Hier das zugehörige Bild:

Die letzte Tugend, Tapferkeit, kann man hier mit “Stressresilienz” übersetzen. Das heißt, dass man im Körper eine Stressreaktion auslöst, so dass der Verteidiger übt, unter diesem Druck zielführend zu agieren.

Diese Stressreaktion (oder wenigstens ein Äquivalent) kann man am einfachsten durch körperliche Anstrengung herbeiführen. Zehn Burpees oder eine Minute Einprügeln auf ein Kickshield bringen das Herz schon zum Rasen, bevor man die Technik an sich übt. Prompt sind Koordination und Konzentration, sagen wir, etwas beeinträchtigt. Selbst einfache Techniken werden dann eine Herausforderung.

Hat man noch eine dritte Person dabei, so kann diese den Verteidiger auch noch anders “stressen”, und zwar während des Übens der Technik. Leichte Schläge mit einer Pool-Nudel (oder auch offenen Händen) sind da sehr beliebt. Die Intensität muss natürlich an die Person des Verteidigers angepasst werden. Einen 25jährigen Fallschirmjäger behandelt man anders als eine 14jährige Anfängerin.

Noch ein Hinweis für alle Anwärter auf den Darwin Award: Das Training der “Tapferkeit” erfolgt NICHT dadurch, dass man etwas tut, das objektiv gefährlich ist. Das treibt sicher die Herzrate (und den Adrenalinpegel) in die Höhe, aber irgendwann verwirklicht sich die Gefahr, und dann wird jemand verletzt oder getötet. Ich bin grundsätzlich der Letzte, der etwas gegen die natürliche Selektion hat. Dennoch: Lasst solchen Schwachsinn!!!

Generell muss Sicherheit beim Training Vorrang haben. Wer keine Erfahrung / Ahnung hat, braucht einen erfahrenen Trainer. Der Rest lässt bitte Vorsicht und gesunden Menschenverstand walten.

Wer alle vier Tugenden gleichzeitig trainieren will, macht hartes Sparring (ggf. mit Schutzausrüstung). Aber damit beginnt man nicht. Darauf arbeitet man hin.

Zurück
Zurück

Alltagswaffen

Weiter
Weiter

Knife Attack in Hamburg: Self-Defense Aspects and Conclusion